«Das all-umfassende Mahamudra»

Der Mahasiddha Tilopa sagte einmal zu seinem Schüler Naropa:

«Geliebter Naropa,

Dieser Schatz der Buddhaschaft
gehört dir und allen Wesen.

Zwanghafter Gebrauch meditativer Disziplinen
oder ständiges Studium von Schriften und Philosophie
vermag es niemals, diese wunderbare Realisierung hervorzubringen,
diese Wahrheit, die für das Gewahrsein (Bewusstheit) natürlich ist,
weil der mind, der verzweifelt einen anderen Bereich
oder eine andere Ebene der Erfahrung erlangen möchte,
absichtslos das zugrundeliegende Licht,
aus dem jegliche Erfahrung beschaffen ist, ignoriert.

Derjenige, der irgendeine Teilung (Spaltung)
im Bewusstsein erzeugt,
verrät die Freundschaft des Mahamudra.
Beende alle Aktivitäten, die trennen,
gib auch den Wunsch auf,
sich von Wünschen zu befreien
und erlaube dem Denkprozess
reibungslos aufzusteigen und zu fallen,
wie die Wellen an einem uferlosen Meer.

Derjenige, der sich niemals
in irgendetwas Abstrakten aufhält
und dessen einziges Prinzip ist,
niemals zu teilen oder zu trennen
hält das Vertrauen des Mahamudra aufrecht.

Derjenige, der das Begehren
nach Autorität und Definitionen aufgibt
und beim Argumentieren oder Verstehen
niemals einseitig handelt,
der allein erfasst die authentische Bedeutung
dessen, was in den alten Schriften verborgen liegt.
In der glückseligen Umarmung des Mahamudra
werden negative Standpunkte und ihre Instinkte
wie Kampfer restlos verbrannt.

Durch die offene Tür von Mahamudra,
wird der verblendete Zustand der Selbstgefangenschaft
leicht für immer zurückgelassen.
Mahamudra ist die Fackel der höchsten Befreiung,
die durch alle bewussten Wesen scheint.
Diese Wesen—bestehend aus Gewahrsein—
die versuchen, das Gewahrsein zu ignorieren,
abzulehnen oder zu erfassen
verursachen Kummer und Verwirrung in sich selbst,
wie diejenigen, die verrückt geworden sind.
Um aus diesem Wahnsinn zu erwachen,
entwickle die gütige Freundschaft
eines erhabenen Weisen des Mahamudra,
der der Welt als verrückt erscheinen mag.
Wenn der begrenzte mind in gesegnete Gesellschaft
mit grenzenlosem Geist (Gewahrsein) eintritt,
dämmert unbeschreibliche Freiheit.

Egoistische oder begrenzte Motivationen
erzeugen das illusorische Gefühl von Gefangenschaft
und verstreuen Samen weiterer Wahnvorstellungen.
Selbst authentische religiöse Lehren
können eine beschränkte Sicht erzeugen.
Vertraue nur dem Ansatz,
der äußerst weitreichend und tiefgründig ist.

Die edle Art von Mahamudra
beschäftigt sich nie mit
dem Drama von Gefangenschaft und Befreiung.
Der Weise des Mahamudra
kennt absolut keine Ablenkungen,
weil ein Krieg gegen Ablenkungen
niemals erklärt wurde.
Dieser Großmut und diese Sanftheit allein,
diese Gewaltlosigkeit im Denken und Handeln
ist der spurlose Weg aller Buddhas.
Diesen allumfassenden Weg zu gehen
ist die Glückseligkeit der Buddhaschaft.

Phänomene auf jeder Ebene des Seins
entstehen und verschwinden ständig.
So sind sie immer frisch,
immer neu und unerschöpflich.
Wie Träume ohne feste Substanz
können sie nicht starr oder bindend werden.
Das Universum existiert auf eine tiefe, schwer fassbare Weise,
die niemals erfasst oder eingefroren werden kann.
Warum zwanghaftes Begehren oder Hass für etwas empfinden
und illusorische Bindungen schaffen?
Verzichte auf willkürliche, gewohnheitsmäßige Ansichten.

Geh mutig hinaus,
um in der echten Bergwildnis zu meditieren—
das weit offene Mahamudra.
Transzendiere Grenzen der Verwandtschaft,
indem du alle Lebewesen
als eine Familie des Bewusstseins umarmst.
Bleib ohne jeden Zwang
in der Landschaft der natürlichen Freiheit—
spontan, großzügig und frohen Mutes.

Wenn du die Krone des Mahamudra bekommst,
wird jeder Sinn für Rang und Errungenschaften
leise verschwinden.
Schneide die Wurzel des Weinstocks,
der den Baum erstickt,
und seine anhaftenden Ranken
verdorren gänzlich.
Trenne den konventionell greifenden mind,
und alle Bindungen und Verzweiflung
lösen sich auf.

Die Beleuchtung von einer Öllampe
beleuchtet den Raum sofort,
auch wenn es seit Äonen dunkel war.
Der Geist ist grenzenloses Strahlen.
Wie kann die geringste Dunkelheit
im Raum der täglichen Wahrnehmung übrigbleiben?

Aber jemand, der sich an mentale Prozesse klammert,
kann nicht zum Strahlen des Geistes erwachen.
Durch strenge Suche nach der Wahrheit
durch Untersuchung und Konzentration,
wird man nie die unvorstellbare Einfachheit und Glückseligkeit,
die im Kern bestehen, zu schätzen lernen.
Um diesen fruchtbaren Boden zu entdecken,
durchbrich die Wurzeln der Komplexität
mit dem scharfen Blick des nackten Gewahrseins
und bleibt dabei völlig in Frieden, durchsichtig und zufrieden.
Du musst keine großen Anstrengungen aufwenden
und umfassende spirituelle Kräfte ansammeln.
Bleibe im Fluss des reinen Gewahrseins.

Mahamudra nimmt weder einen Strom der Energie an,
noch lehnt es sie ab, seien sie innerlich oder äußerlich.
Da das Grundbewusstsein niemals
in irgendeinem Bereich des Seins geboren wird,
kann nichts dazu hinzugefügt oder weggenommen werden.
Nichts kann es behindern oder beflecken.
Wenn das Gewahrsein hier ruht,
verschwindet das Erscheinen von Teilung und Konflikt
in der ursprünglichen Realität.
Die Zwillingsemotionen von Angst und Arroganz
verschwinde in die Leere, aus der sie gekommen sind.

Das höchste Wissen kennt kein separates Subjekt oder Objekt.
Die höchste Handlung agiert Reich der Möglichkeiten
und ohne eine Ansammlung von Instrumenten.
Die höchste Errungenschaft erreicht das Ziel
ohne Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart.

Der engagierte Praktizierende
erlebt den spirituellen Weg
als einen turbulenter Gebirgsbach,
der gefährlich zwischen den Felsbrocken taumelt.
Wenn die Reife erreicht ist,
fließt der Fluss sanft und geduldig
mit dem mächtigen Schwung des Ganges.
Sich in den Ozean von Mahamudra ausleerend,
wird das Wasser zu immer größer werdendem Licht,
das sich in großes, klares Licht ergießt—
ohne Richtung, Ziel, Teilung,
Unterscheidung oder Beschreibung.»

 

 

Weitere Aussprüche von Tilopa:

Eine Fackel kann die sich angesammelte Dunkelheit
von tausend Äonen auflösen.

Das Öl, das die Essenz des Sesams ist—
obwohl selbst die Unwissenden wissen, dass es im Samen enthalten ist—
kann nicht extrahiert werden, es sei denn, es wird gelernt, wie dies zu bewerkstelligen ist.
Ebenso wird die angeborene Gnosis (natürliche Weisheit, Einsicht, Erkenntnis, sanskr. Sahaja-jnana)—
obwohl sie immer in den Herzen der Wesen gegenwärtig ist—
nicht realisiert, es sei denn, ein weiser Guru weist den Weg.
Indem man den Sesam zerstampft, die Schalen entfernt,
ist es möglich, das Öl zu extrahieren.
Wenn man sich in diesem Sinn um die Instruktion des Gurus bemüht,
wird die Wahrheit des Absoluten (sanskr. Tathata) offenbart.
Das ist die Symbolik des Sesams.
Unteilbar und eins ist die angeborene Essenz (sanskr. Sahaja) von allem was ist!
Oh! So weit, so tief, die Bedeutung ist jetzt vollkommen klar.
Wie wundervoll!

Zuerst fühlt ein Yogi,
dass sein mind wie ein Wasserfall taumelt.
In der Mitte fließt er wie der Ganges
langsam und sanft.
Am Ende ist er ein großer großer Ozean,
in dem die Lichter von Sohn und Mutter
in Eins verschmelzen.

Kye ho! Höre mit Sympathie zu!
Mit Einblick in deine
traurige weltliche Lage,
erkennend, dass nichts fortdauern kann,
dass alles wie eine traumhafte Illusion ist,
eine bedeutungslose Illusion,
die Frustration und Langeweile hervorruft,
kehr um und lass deine weltlichen Aktivitäten
hinter dir.

Beende alle körperlichen Aktivitäten
und sitze natürlich entspannt.
Bleib still
und lass die Geräusche wie ein Echo sein.
Denk nicht an irgendetwas,
schaue auf Erfahrung jenseits des Denkens,
offenen Geistes wie der Weltraum.
Lass die Kontrolle los, halte inne
und ruhe dich in diesem Zustand aus.
Gewahrsein ohne Projektion
ist die größte Meditation.
Trainiere und entwickle dich so
und du wirst zum tiefsten Erwachen kommen.

Wenn du nicht mehr nach einem Objekt
oder nach einem Subjekt greifst,
ist das der König aller Ansichten.
Wenn es keine Ablenkung gibt,
ist das der König aller Meditationen.
Wenn es keine Anstrengung gibt,
ist das der König unter allen Verhaltensweisen.
Wenn es keine Hoffnung und keine Angst gibt,
ist das das Enderresultat
und die Erfüllung wurde erreicht oder offenbart.

Die Erscheinungen der Welt sind nicht das Problem;
das Sich–daran–Klammern ist es, was Leiden verursacht.

Es ist nicht die Erscheinung, die dich bindet,
sondern es ist die Anhaftung an die Erscheinung, die dich bindet.

Kind, es liegt nicht an den Erscheinungen, dass du gefesselt bist,
sondern am Begehren.

Samsara bedeutet, den Anderen die Schuld zu geben (an anderen Mängel zu sehen).

Schneide den mind an seiner Wurzel ab und ruhe in nacktem Gewahrsein.

Hab einen Gemüt, das für alles offen ist und das an nichts hängt (anhaftet).

Wie der Raum ist der Geist von nichts abhängig.
Ruhe gelassen im natürlichen Zustand (Sanskr. Sahaja).

Erinnere dich nicht. Lass los, was geschehen ist.
Stell dir nichts vor. Lass los, was kommen mag.
Denke nicht. Lass los, was gerade jetzt geschieht.
Untersuche nichts. Versuche nicht etwas herauszufinden.
Kontrolliere nicht. Versuche nicht etwas zu bewirken.
Ruh dich aus. Entspanne dich—jetzt—und ruh dich aus.

Kein Gedanke, keine Reflexion, keine Analyse,
keine Kultivierung, keine Absicht;
lass es sich von selbst erledigen.

 

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